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Der verlorene Pinsel

Der Pinsel lag auf dem Gehsteig. Er sah ein bisschen zerrupft aus und Farbreste klebten an ihm. Vorsichtig nahm Lara ihn in die Hand. Er hatte etwas Majestätisches an sich. Wie ein alter Mensch, dessen Gesicht die Geschichten seines Lebens erzählt. Wo er wohl herkam? Lara betrachtete die Farbkleckse auf seinem Stiel und seine zerzausten Haare. Es schienen Naturhaare zu sein. Ein Teil war ganz verklebt, aber die freien Borsten waren ganz zart und weich. In Laras Kopf entstanden Bilder eines Rotmarders, der frei und wild durch den Wald streifte. Ob ihr die Erinnerung an dieses Tier ermöglichen würde, freie und wilde Bilder zu malen? Ihre Hand spürte schon, wie sie den Pinsel in eine satte, starke Farbe tauchte und den ersten Strich auf einer verheißungsvoll leeren Leinwand zog. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und sie steckte den Pinsel ein. Zu Hause stellte sie ihn zunächst zu den andern ins Pinselglas. Er sah fehl am Platz aus, so zerzaust und schmutzig zwischen all den Vorzeigepinseln. Wenn Laras Blick ihn streifte, schien er aufzuleuchten. Sie nahm eine große Leinwand und stellte sie auf die Staffelei. Beinahe zärtlich nahm sie den zerrupften Pinsel in die Hand und säuberte ihn. Die alten Farbkleckse lösten sich nicht und einige Haare blieben verklebt. Lara lächelte. Wer den Pinsel wohl verloren hatte? War er jemandem aus der Tasche gefallen? Wurde er kurzerhand auf der Straße entsorgt? Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild einer Frau, die große, bunte Bilder malte. Die Farben leuchteten ihr entgegen. Die Frau malte schnell und wild. Plötzlich erfasste sie eine große Wut. Sie öffnete das Fenster und warf den Pinsel in einem hohen Bogen hinaus. Lara musste lachen. Da war wohl ihre Fantasie mit ihr durchgegangen. Aber sie hatte so große Freude an diesem inneren Bild, dass sie es auf die Leinwand bringen wollte. Sie tauchte den Pinsel in die leuchtend rote Farbe und näherte sich der Leinwand. Marion Theresa Douret

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Die 12. Rauhnacht - Licht

Die 12.Rauhnacht schließt den Kreis. Ihr ist die Energie des Dezembers zugeordnet, der gerade erst hinter uns liegt. Es ist der dunkelste Monat, aber auch der Monat der Sonnenwende. Das Weihnachtsfest, das heute an die Stelle uralter Sonnwend- und Lichterfeste gerückt ist, feiert den Anbruch einer neuen Zeit. Die Dunkelheit ist zu Ende und das Licht übernimmt im Jahreskreis wieder die Führung. Warten auf das Licht, Rückschau halten und Ausrichtung auf das Neue sind die Geschenke des Dezembers. Vor oder in der letzten Rauhnacht (die Nacht vom 5. auf den 6. Dezember) nimm noch einmal diese Zeit ins Visier. Wie hast du dich gefühlt, bevor du die Zeit der Rauhnächte begonnen hast? Wie fühlst du dich heute? War es eine Last, sich jeden Tag Zeit zu nehmen, die Energie der entsprechenden Nacht aufzunehmen oder ein Geschenkt? Bist du deiner inneren Sehnsucht auf die Spur gekommen? Gib dich in dieser Nacht ganz dem Gefühl hin, aus der Dunkelheit ins Licht zu treten. Gehe diesem stärke

Die 9. Rauhnacht - Geduld

Die neunte Rauhnacht ist dem September nahe. Der September ist ein Monat, in dem der Sommer zwar schon vorbei ist, aber noch nachklingt. Es gibt noch warme Tage, der Regen wird schon mehr und es wird kälter. Die Hitze des Hochsommers ist vorbei, die Ernte hat begonnen, aber bis die Äpfel reif sind, müssen wir uns noch gedulden. Es ist ein langsamer Wechsel von der Hitze und Trockenheit zu den bunten Farben des Oktobers. Auch am 2. Januar ist das alte Jahr vergangen, klingt aber noch nach. Auch wenn wir Altes loslassen konnten, müssen wir noch langsam in das neue Jahr hineinwachsen. Du kannst dich in die Energie des Neubeginns einschwingen, aber lass dir Zeit dabei, in die Aktivität zu kommen. Abschied nehmen braucht Zeit und neue Wege sind mitunter schwierig. Gönn dir diese Zeit. Lege immer wieder Pausen ein. Übe dich im Nichtstun. Schau zwischendurch aus dem Fenster, starre Löcher in die Luft, atme genüsslich ein und aus, mache Pausen. Es tut gut, die Seele langsam nachkommen z

Die 4. Rauhnacht - Gelassenheit

Die vierte Rauhnacht ist geprägt von der Energie des Aprils. Im April gewinnt das Frühjahr zwar schon an Kraft, ist aber geprägt von Unsicherheiten, plötzlichen Wetterwechseln. Nichts ist wirklich verlässlich. An einem Tag kann es Kälte und Wärme, Sonne, Regen und Temperaturstürze geben. Bäume und Blumen blühen und verlieren ihre Blüten im Sturm oder durch einen späten Frost. Im April ist in der Natur vor allem eines sicher: nichts ist sicher und nichts wirklich planbar. Wie gehst du mit solchen Wechseln um? Kannst du sie annehmen oder fallen dir Veränderungen schwer? Wie gelassen bleibst du in den Stürmen des Lebens, wie leicht kannst du loslassen? Um der Gelassenheit auf die Spur zu kommen, hilft eine kleine Körperübung. Nimm einen Gegenstand (einen Tennisball, eine Tempopackung o.Ä.) in die Hand. Halte ihn eine Weile fest, bis er die Wärme deiner Hand angenommen hat. Packe ruhig fest zu, bis das Festhalten schmerzhaft wird. Dann entspanne deine Hand und deinen Arm. Lass den Gege