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Tauwetter

 

Abgestorbene Blüten
Die sterbenden Blüten ahnen den
Segen des Tauwetters.

Sie saß am Fenster und starrte auf die verlassene Straße. Grau gewordene Schneereste türmten sich von den Autos. Kein Zeichen von Leben zeigte sich zwischen den Reihenhäusern mit den winzigen Vorgärten. Sie wirkten wie die erstarrte Kulisse einer verlassenen Stadt.
 

Sie kannte nur wenige ihrer Nachbarn. Ein Nicken oder ein kurzer Gruß, mehr war nicht drin. 

Vor dem Fenster hatten sich kleine Eiszapfen gebildet. Gleichmäßig tropfte Wasser auf den Boden. Sie versuchte, die Tropfen zu zählen, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken festzuhalten. Der Blick glitt wieder ins Leere und sie spürte, wie die Kälte sich in ihr ausbreitete.


Aus dem Nachbarhaus hörte sie das Geschrei der Kinder. Holger hatte wieder zu viel getrunken, da saß seine Hand recht locker. Ob die Lehrer die blauen Flecken der Kinder nicht bemerkten? Die kleine Mareike wagte kaum noch, ihren Kopf zu heben. Alex war schon 10 und konnte schon fast so gut zuschlagen wie sein Vater. 

Die Schrei verstummten und sie hörte wieder den gleichmäßigen Rhythmus der Wassertropfen.


Das Geräusch der Schlüssel an der Haustüre ließ sie zusammenzucken. Dirk polterte herein. „Gibt es heute nichts zu essen? Du weißt doch, dass ich gleich wieder los muss. Ich hab Training.“

Sie antwortete ihm nicht. Ihr Blick verlor sich im Nichts. Er trat hinter sie. „Was gibt es denn da zu sehen? Warum sitzt du da und hast nichts gekocht?“ Seine Stimme klang genervt. Sie antwortete nicht. Die Stille dehnte sich zwischen ihnen aus. Lange geschah nichts. Sie atmete ein und zwang sich zu sprechen. „Mir ist so kalt.“ 

„Kalt? Machst du Witze? Die Heizung läuft. Es ist warm hier.“ Sie gab ihm keine Antwort. Die Kälte hatte ihre Stimmbänder erreicht. Selbst ihre Gedanken schienen eingefroren zu sein. Ob sich so Sterben anfühlte?


Straße mit Tauwasser

Dirk ging zum Sofa und nahm die Decke. Vorsichtig legte er sie über ihre Schultern. Er stellte Wasser auf und kochte Tee. Unbeweglich starrte sie aus dem Fenster. Das Geräusch der tauenden Wassertropfen zerhackte die Zeit. Er holte sich einen Stuhl und setzte sich neben sie. Sanft nahm er ihre Hände und legte sie um die warme Teetasse. Schweigend sahen sie zu, wie der Dampf sich auf die Fensterscheibe legte. Die Dämmerung war hereingebrochen. Das Licht der Straßenlaternen tauchte die Häuser in warmes Licht.

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